Pocken

Teil 2: Das vergleichende Studium der Tier- und Menschenblattern

Ich habe noch immer gefunden, dass zum Studium einer Volkskrankheit das Studium der entsprechenden Tierkrankheit die fruchtbarste Anleitung gibt. Was hätte uns die Kenntnis des klinischen Symptomenbildes der Trichinosis ohne die Kenntnis der Trichinosis des Schweins genützt?

Der Ursprung und die Verbreitungswege der Menschenkrätze würden im Dunkel gehüllt bleiben, wenn wir nicht die Brutstätte der Krätzmilbe in dem Fell und der Wolle der krätzigen Schafe im Wollhandel verfolgten. Das Wesen und die verhüllte Ursache der Diphtherie des Menschen kann nur erforscht werden aus der bereits so glücklich erforschten Diphtherie des Schweins.

Nicht anders verhält es sich mit den Pocken. Ich frage mich wie bei den erwähnten Krankheiten: wo steckt im Stalle das Spiegelbild des Menschen? Da stellt sich nun das Schaf dar. Das Schaf ist das einzige Tier, welches in der Gegenwart wie in der Vorgeschichte früherer Jahrhunderte das Geschick, massenweise an den Pocken zu erkranken, mit dem Menschen teilt.

Folgerichtig müssen wir uns sagen, dass die abgelegten Kleider pockiger Schafe, die Schafwolle und Schaffelle, für die Einpflanzung und Weiterverbreitung des flüchtigen Pockengiftes unter den Menschen mindestens ebenso gefährlich werden müssen, wie die nicht desinfizierten Kleider pockenkranker Menschen.

Von dieser Annahme ausgehend, müssen wir auf die beste, ja auf die einzig richtige Forschungsfährte gelangen, auf eine Fährte, zu deren Beschreitung der Arzt aber auch aufhört, ein Vorrecht vor dem aufmerksam beobachtenden Laien zu haben.

Um die Annahme verwandtschaftlicher Beziehungen zwischen Pocken der Schafe bzw. der Schafswolle und Pocken der Menschen aus der Bedeutung einer bloßen Hypothese heraus zu dem Werte  einer begründeten Theorie zu erheben, müssen wir – wie bei der Trichinosis zwischen Trichine des Schweins und Trichine des Menschen – zuerst die Übertragbarkeit des Pockengiftes von dem Schaf auf den Menschen durch das Experiment nachweisen.

Da steht uns nun außer der alltäglichen Erfahrung der Tierärzte ein Geschichtszeugnis aus einer Zeit zu Gebote, in welcher man statt der Kuhlymphe, der Vaccine, die Pockenlymphe pockiger Schafe, die Ovine, mit Erfolg zum Impfen der Menschen benutzte.

Dr. Sacco, im Anfange dieses Jahrhunderts Direktor des Impfwesens in Italien, nahm um das Jahr 1806 zum Impfen der Kinder die Lymphe eine Zeit lang aus den Pusteln pockenkranker Schafe und erzielte mit derselben echte Pockenpusteln, welche nach Verlauf und Narbenbildung von den durch Inokulation der Menschenblattern erzielten nicht zu unterscheiden waren.

Auf Grundlage dieses Massenexperiments sind wir heute befugt, einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Menschenpocken und Schafpocken auch für die Ausbrüche und Epidemien und Epizootien als experimentell erwiesen anzunehmen.

Übrigens kann dieses Experiment, mit Ovine zu impfen, jeden Tag nachgemacht werden, und sehe ich nicht ein, weshalb der Staat von seinem Standpunkt die Ovination, das Impfen mit Schafpockenlymphe nicht als animale Impfung für gleichwertig mit der Kuhpockenlymphe halten soll.

In dieser Tatsache der experimentellen Übertragung bzw. Überimpfung des Giftes haben wir den Fingerzeug für unsere Weiterforschung.

Teil 3: Geschichte der Pocken bei Schaf und Mensch bis 1500
Schafpocken und Menschenpocken gehen nebeneinander

Der Erste, welcher auf das Zusammengehen der Menschenblattern mit denSchafblattern aufmerksam machte, war ein altrömischer Dichter. Virgil (Georgical II) führt den Ursprung der Pocken der Menschen unmittelbar auf die Pocken der Schafe zurück und bezeichnet als Träger und Vermittler des Giftes das Fell und die Wolle pockenkranker Schafe. Er warnt, Wolle und Häute pockiger Schafe für Bekleidungszwecke zu benutzen; er schreibt wörtlich:

„Das Pockengift kann aus den Schafskadavern weder durch Wasser noch durch Hitze entfernt werden. Niemand darf die von den Pocken angefressenen Felle scheeren noch die faulschweißigen Stoffe aus solcher Schafswolle betasten; sonst wird er von brennenden Blattern befallen und schmutziger Schweiß bricht aus seinen Gliedern hervor“

Einer der ältesten Schriftsteller über die Pocken der Menschen ist ein Priester namens Aaron aus Ägypten, welcher im Jahre 622 zur Zeit Mohameds in Alexandrien lebte (Abul pharaz. p. 99). Von ihm existiert in syrischer Sprache die Beschreibung einer Pockenepidemie, welche aus Ägypten nach Arabien verschleppt worden war.

In Griechenland waren nach Paulus Aeginet im Jahre 641 die Pocken noch unbekannt. Ein jüdischer Arzt, der weise Maserjawaihus aus Basor, welcher die medizinischen „Pandekten“ des ägyptischen Aaron aus dem Syrischen ins Arabische übersetzt hat, beschreibt im Jahre 683 als Folge der Pocken Augenentzündungen und Erblindungen (Rhazes Contin 421).

Im Jahre 753 starb ein Kalif an den Pocken (Rhazes 419). Anno 794 lehrte in Bagdad der berühmte Johannes, Sohn Mesues, die Pocken und Pockennarben mit Wundertränken zu behandeln. Mesue und Isaak, Urenkel des Johannes von Bagdad, im 9. Jahrhundert, verordneten als unentbehrliches Schutz- und Heilmittel gegen die Pocken Schröpftöpfe und Aderlass.

Um die nämliche Zeit beschrieb Phazes, der große Philosoph und Medicus, in den 30. Buche seiner Werke die Pocken des Altertums. Um das Jahr 1180 lehrten Avicebron und Averroes († 1198), dass damals die Pocken alle Völker Europas derart heimgesucht hätten, dass es für ein Wunder gehalten wurde, wenn einer verschont blieb.

So sehen wir die Pocken in den ältesten Zeiten, als die Menschen die Wolle und die Felle ihres Pockenpartners, des Schafes, noch roh, ungewaschen und ungegerbt, in der Wiege des Säuglings und in den Betten der Familien, unter der Sturmhaube und dem Panzer des Kriegers wie als Wamse und Hosen an ihren Körpern trugen, ganze Völker verheerend heimsuchen.

Die Gelehrten, die sogenannten Ärzte und Astrologen, suchten die Ursache der Pocken Jahrhunderte lang in den  Gestirnen. Spätere aufgeklärtere Jahrhunderte bis auf die Jetztzeit glaubten die Quelle des Pockengiftes in einer Anhäufung nicht geimpfter Individuen entdeckt zu haben.

Mit derartigen abergläubischen Phantastereien wurden die Völker bis auf den heutigen Tag zum besten gehalten. An die Worte des römischen Dichters Virgil, welcher mit dem Seherblick des Dichters die einfache Ursache der Pocken in der pockenschweißigen Wolle und in den Fellen pockiger Schafe gefunden hatte, dachte niemand.

Nachdem wir das Schaf, sein Fell und seine Wolle als den Mutterboden des Pockengiftes kennen gelernt, werden wir versuchen, uns über den Verbrauch dieser Rohstoffe aus der Kostümkunde der alten Zeit ein Bild zu machen.  Wir erkennen dann die maßlose Verseuchungsgefahr, welche im Altertum für Fürst und Bettler bestand, aus der Rohwolle der Schafe nicht nur die Räudemilbe, die Krätze, sondern auch das Pockengift zu schöpfen.

Aristoteles (lib. 9 anim.) schreibt über die Verwendung der Schafswolle und der Schafsfelle für Kleider und bemerkt, diejenigen Kleider, die man von der Wolle solcher Schafe verfertigte, welche vom Wolf getötet wären, bekämen mehr Läuse.

In der Bibliothek des landwirtschaftlichen Museums in Berlin fand ich ein Exemplar des alten Buches: „Petri de Crescentis von dem Feld- und Ackerbau zu teutsch mit Figuren, das neunte Buch“. Dort heißt es im 75. Kapitel:

„Von Nutz der Schoff und Lemlin. Uss ire hewten mit den hore werden beltz und fuder der anderen Cleyder. Un wenn ire hewt geheret un gereyniget werden schw (Schuh) und perment. – Dye fel un Wolle der Lemlin synt aller beste um  zu decken menschliche Lyp bequemer wann ir müde“

Auf Seite 129 der neueren Auflage dieses Buches von 1583, Verlag Feierabend, Frankfurt, wird die Pestilenz, d. h. die Pockenkrankheit der Schafe beschrieben. Diese Sätze sind eines der ältesten Geschichtszeugnisse, aus welchem hervorgeht, dass man im Mittelalter und in noch früheren Jahrhunderten, als in den Schafherden die Pocken, wie schon Columella und Virgil bezeugen, fast nie ausgingen, auf Schritt und Tritt Gefahr laufen musste, durch pockige Wolle und Häute sich die Pocken auf den Hals zu laden; damals lieferte das Schaf dem Menschen den ganzen Kleiderbedarf. Schuhe, Kleider, von den Hosen bis zu den Pelzhüten, Kleiderfutter und sogar Betten und Bettdecken wurden aus getrockneten Schafsfellen, mit und ohne Wollbesatz, verfertigt.

Kein Wunder, dass damals unerkannt Betten und Wiegen zu wahren Brutnestern der Menschenpocken wurden. Ein Wunder nur, dass, während Millionen Menschen an den Pocken zu Grunde gingen, ähnlich wie bei der Trichinosis, kein Mensch den Zusammenhang der Menschenseuche mit der Tierseuche ahnte.

Dass bei den Schafen, – von welchen die Menschen ihren ganzen Kleider- und Bettbedarf bezogen, – die Pocken-„Pestilenz“ eine allgemein verbreitete Seuche war, das ist aus verschiedenen landwirtschaftlichen Büchern jener Zeit zu erfahren. Eines derselben heißt:

„Der Veldbau oder das Buch von der Veldarbeit 1545, Straßburg, Sam. Emmel.“ Da kommt auf S. 156 die Stelle vor: „Das die Schaaf die Pestilenz nit gewinne“, „nimm en storcken magen, zerstoß den in Wasser und geuß auf eyn jedes Thier eyn Löffel voll.“ – Also das erste abergläubische Mittel gegen die Pocken.

In „Clemens von Padua“ Sieben Bücher von dem Ackerwerk, 1580, Straßburg bei Bern. Jobin wird „Salz und Schwefel“ als Schutz- und Heilmittel gegen die Pocken der Schafe empfohlen.

Wir sehen hier Menschenpocken und Schafpocken epidemisch nebeneinander hergehen; zwischen den beiden stehen als Vermittler die Wolle und das Fell der pockigen Schafe. Nicht die Geschichte der Medizin, sondern die Geschichte der Kostüme, der Völkertrachten aus jenen Jahrhunderten liefert uns den Schlüssel zu dem Studium der natürlichen Ursachen des Kommens und Verschwindens der Pockenepidemien.

Teil 4: Geschichte der Pocken bei Schaf und Mensch von 1500 – 1700

Die Einführung eigener Methoden, den Schafen und den Menschen die Pocken absichtlich beizubringen: Das Pockenleihen bei den Schafen, das Pockenkaufen (emtio variolarum) bei den Menschen.

Im 16. Jahrhundert erblickten die Schäfer in der Pockendurchseuchung ihrer Herden eine Art Ausreinigung der Schafe von angeborenem Krankheitsstoffe. Wir sehen daher um diese Zeit die Schäfer allerlei Mittel anwenden, um den gesunden Schafen das Pockengift künstlich beizubringen, dieselben absichtlich pockenkrank zu machen. Sie liehen und kauften sich von anderen Schäfern Felle krepierter pockiger Schafe und hingen dieselben im Stalle der gesunden Herden auf oder warfen sie unter die Spreu.

Auch trieb man pockenkranke Schafe in gesunde Herden hinein, um letztere durchseuchen zu lassen. Auf diese Art wurden die gesunden Schafherden, also auch die Verbrauchswollen pockenkrank gemacht.

Was Wunder, dass die Menschen, welche damals fast ausschließlich sich in Rohwolle und in getrockneten Schafsfellen kleideten, beständig von den Pocken heimgesucht wurden! In dieser zweiten Periode soll in England die Pockensterblichkeit 56 % der Gesamtsterblichkeit betragen haben.

Ein ähnliches Verfahren wie das eben geschilderte bei den  Schafen war bei den Menschen im Gebrauch. Von der Voraussetzung ausgehend, jeden Menschen sei das Pockengift angeboren, und dasselbe müsse in dem Blatternprozess sich ausschäumen, und in dem Wahne befangen, dass ein Mensch, welcher nicht geblattert habe, das 50. Lebensjahr nicht erreichen könne, gaben die Leute sich alle Mühe, sich und ihre Kinder mit dem Gifte pockenkranker Menschen zu infizieren.

Zu Gegenproben ließ man es gar nicht kommen. So war es eine allgemeine Sitte, dass  man unter eigentümlichen Fragezeremonien sich von Kindern, welche pockenkrank lagen, die pockeneiterigen Hemden lieh und diese seinen eigenen, gesunden Kindern anzog, damit diese nun auch die Pocken bekämen.

Der Pfarrer Cuno von Salzwedel war einer der ersten, welcher im Anfange des 16. Jahrhunderts diese Methode, die Pocken künstlich weiter zu verpflanzen, beschrieb. Den pockenkranken Kindern wurden für das Leihen der schmutzigen Wäsche einige Geldstücke, meist nur einige Pfennige bezahlt, daher der Ausdruck Pockenkaufen.

Eine andere Methode, sich absichtlich pockenkrank zu machen, war die, dass die gesunden Kinder zu den pockenkranken in das Bett gelegt wurden.


Die Pockenpest unter den Schafen im 16. Jahrhundert, und die ersten Überimpfungen von Schaf zu Schaf

 

Um das Jahr 1500 lebte der schon oben erwähnte berühmte Ackerwirt Peter von Crescentius. Derselbe gab ein mit Holzschnitten illustriertes dickes Buch heraus unter dem Titel: „Von dem Feld- und Ackerbau“ (2. Auflage erschien 1585 bei Verlag Feierabend, Frankfurt a. M.). Auf S. 129 kommt die Rede auf die „Pestilenz der Schafe“, d. h. die Pocken:

 „Etliche Viehärzte wollen, dass man eine lebende Kröte in den Weinreben fasse und dieselben in einen Leinensäcklein verbinde und das kranke Schaf solche ganzer neun Tage lang an den Hals lass tragen.“

Dann heißt es ferner über die Verwendung der Schafsfelle: „Schafsfell, frisch aufgezogen, auf die (kranken) Glieder gelegt, ist die köstlichste Arznei, welche alsbald hilft. Die Schafswolle stillt die Schmerzen und legt die Geschwulst der Glieder, da sie überlegt wird.“

„Johannes Coleri Oeconomie oder Hausbuchs, Vierde Theil, Wittenberg, Paul Helwig 1599“ enthält eine naive Beschreibung der ältesten Methode, das Pockengift von pockigen Schafen auf gesunde absichtlich zu übertragen. Das zwölfte Buch. Das LVI. Kapitel. Vor die Pocken oder Blattern der Schafe:

„In den Hundstagen pflegen auch die Schafe zu pocken. Das ist ihnen ein schädlich und anfällig Ding, welches oftmals macht, dass man die Schafe in einem ganzen Dorf muss wegbringen. Es sagen etliche Schäfer, man solle sie nur im Stalle warm halten, so kommen sie desto eher heraus, man treibe sie nur alle miteinander, beides die gesunden und kranken im Schafstall hart aneinander, dass sie zur Ruhe aneinander stehen, gar gedrängt, so erwärmen sie fein beieinander, und werden die kranken ihrer Pocken desto leichter los, fallen an die gesunden auch mit  und werden je ein Teil los. Doch ists ein sorglich Ding, denn sie sterben gleichwohl bisweilen im folgenden Winter weg.“

Da haben wir das Pockensiechtum unter den Schafen im 16. Jahrhundert. Da gab es pockige Sterblingsfelle und pockige Sterblingswolle im Überfluss. Der Einfluss des Wollverkehrs auf die Erzeugung großer Menschenpockenepidemien ist also nicht zu verkennen.

Der Grundgedanke der Pockenimpfung ist hier ebenfalls klar ausgesprochen: Die gesunden Schafe sollen den kranken einen Teil des Pockengiftes abnehmen, ihnen die Krankheit tragen helfen; drum sperrte man die gesunden zu den kranken in den Stall ein. Das ist die Impfung und das Impfprinzip in größtem Stile; alle späteren Impfmethoden, namentlich die Lanzetimpfung sind hiergegen nur Spielerei. Johannes Colerus fährt fort:

„Etliche nehmen eines oder zwei oder drei pockende Schafe, je  nachdem, ob es viel oder wenig Schafe sind, binden zweien die Füße zusammen und brennen dieselben lebendig in einem Backofen zu Pulver. Alsdann stampfe man das Pulver und siebe es durch und nehme ein Kraut, Attich genannt, dörre es und stoße es zu Pulver, danach nehme man Leinsaat und Salz, menge alles durcheinander und gebe es den Schafen zu essen. Dasselbe tue acht oder zehn Tage nacheinander. Es wird helfen, probier es.“

„Etliche nehmen vier oder fünf blattrige Schafe, halb lebendige, halb tote, pulvern sie in einem Backofen mit einem Sack voller Grossen [?] und Ohmeisen [?] und geben solch Pulver den Schafen unter das Salz mit zu essen, so vergehet die Krankheit balde.“

„Etliche nehmen ein unrein (pockiges) Leinlaken von einem unreinen Menschen im Spital und brennen es zu Pulver, darnach so nehmen sie auch das erste pockende Schaf, das sie unter der Herde finden, brennen’s auch zu Pulver und mengen das unter das Salz und geben’s den Schafen.“

Auf diese Weise impften die Schäfer im 16. Jahrhundert ihre Herden und züchteten in der Schafswolle das Pockengift zentnerweise. Es ist die älteste Methode zu impfen, die sogenannte Notimpfung der Schafe.

Man ließ die gesunden Tiere nicht etwa nur die Lymphe von pockenkranken, sondern die Asche ihrer ganzen Kadaver mittels des Getränkes sich einverleiben. Man glaubte im Volke steif und fest an die Schutzkraft dieses Verfahrens, so wie heute an die der Lanzetimpfung.

Diese alte Methode, die Asche pockiger Tiere trinken zu lassen, diese innerliche Animalimpfung, erinnert an die allerneueste Art einiger impfgläubiger Homöopathen, welche die Pockenlymphe in großer Verdünnung trinken lassen und hiervon einen Schutz vor den Pocken erwarten.

Teil 5: Geschichte der Pocken bei Schaf und Mensch von 1700 bis 1800

Von der Einführung der Lanzetimpfung (Inokulation) bei den Menschen und bei den Schafen (1700) bis zur Unterdrückung des Verkehrs mit pockigen Schafsfellen und pockiger Schafswolle (1801/16)

Alle Welt glaubt, das Impfen sei erst gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts durch den Chirurg Jenner entdeckt worden. Da ist aber ein großer Irrtum. Die Lanzetimpfung datiert in Europa bereits von dem Anfang des 18. oder dem Ende des 17. Jahrhunderts, also fast 100 Jahre vor der Jennerschen sogenannten Erfindung, welche darin bestand, dass er die Menschen statt mit der Menschenpockenlymphe mit Pockenlymphe vom Kalb oder von der Kuh impfte. Die Impfung entsprang im 17. Jahrhundert aus Aberglaube, Gewinnsucht und Betrug; die Anfänge derselben sind in Dunkel, in betrügerischer Mystik gehüllt.

Bei den rohen Völkern, besonders in Thessalien, war es schon im 17. Jahrhundert Sitte, gesunden Menschen das Pockengift mittels einer Lanzette beizubringen, mit anderen Worten sie zu impfen, zu inokulieren oder, wie man es damals nannte, mit Pockengift zu belzen. Die Einführung der abergläubischen Zeremonie des Impfens in Europa wird von den Geschichtsschreibern in folgender Weise beschrieben:

Gegen Ende des 17. Jahrhunderts erschien in Konstantinopel ein altes Weib, der griechischen Kirche angehörend, welches wegen Betruges aus ihrem Vaterland vertrieben worden war. Diese Frau hatte die Dreistigkeit zu behaupten, die Muttergottes sei ihr erschienen und habe sie gelehrt, als Verhütungsmittel gegen die Pocken, gesunden Menschen mit Pockengift die Wundmale Christi auf den Händen und Füßen und im Gesichte einzuimpfen.

„Anus Thessala ilud negotium asservabat“ … sagt Dr. Rennow in seiner  „histor. Progress. Vaccinat“

Die Pocken-Schriftsteller aus dem Anfange des 18. Jahrhunderts berichten übereinstimmend mit Betrachtung die Entwicklungsgeschichte der Impfung in Europa. Die verworfenste Sorte von Frauenzimmern besorgte das Impfgeschäft. Die Furcht vor den Pocken trieb ihnen die Dümmsten der Dummen in die Arme.

Verabscheut von den kirchlichen Behörden, und anfangs auch von den Ärzten, trieben die Impfweiber ihr schmutziges Handwerk lange Zeit als Monopol. Erst als die Ärzte sahen, dass mit der Impferei viel Geld zu verdienen war, bemächtigten sie sich ebenfalls der Impfnadel, erwarben sich alsbald Impfkundschaft, und besiegten die Konkurrenz der alten Weiber.

Das Pockenbelzen oder Impfen war um die Mitte des vorigen Jahrhunderts schon allgemein bekannt, was schon daraus hervorgeht, dass Dr. Krünitz bereits um das Jahr 1765 in seiner Literatur der Pocken mehr als 300 Schriftsteller aufführt, welche über das Impfen geschrieben hatten.

Ganze Bände ließen sich drucken über die Greuel des Impfens im vorigen Jahrhundert. Es ist geschichtlich festgestellt, – vergl. Hufeland „Pocken in Weimar“, – dass das Impfen der gesunden Menschen mit dem Gift von pockenkranken Menschen eine zweite Hauptquelle der verheerenden Pockenepidemien im vorigen Jahrhundert war.

Die Einführung der Lanzetimpfung bei den Menschen im 18. Jahrhundert führte aber gleichzeitig zu der Impfung der Schafe und machte so die Wolle pockenkrank.

Wir haben oben gesehen, dass es in früheren Jahrhunderten bei den Schafzüchtern Sitte war, durch ein absichtliches Zusammentreiben gesunder Schafe mit den pockigen im Pockenstalle ganze Schafherden pockenkrank zu machen und so das Pockengift in der Wolle zu züchten. Im 18. Jahrhundert kam nun wie bei den Menschen, so auch bei den Schafen, zu diesem einfachen Pockenfangen die Lanzetimpfung hinzu.

Die Schäfer hatten, und zwar eher noch als die Tierärzte, den Menschenärzten das Impfen abgelauscht. Mit dem von Jahr zu Jahr steigenden Impfen der Schafe stieg aber auch die Pockensterblichkeit bei den Schafen und die Pocken-Durchseuchung der Schafswolle. Begreiflicher Weise musste mit dieser auch die Pockensterblichkeit der wolltragenden Menschen zunehmen.

Das Impfen der Schafe war gegen Anfang des 19. Jahrhunderts so allgemein und der blinde Glaube an die Schutzkraft der Impfung so fest geworden, dass im Jahre 1806 in Preußen die Landesbehörde sich herbeiließ, den Schafsbesitzern das Impfen der Schafe als ein unfehlbares Vorbeugungsmittel gegen die Pocken anzuempfehlen.

Siebenzig Jahre hielten die Tierärzte an diesem Wahne fest, dass das Impfen schütze, bis ihnen in den 1870er Jahren die Binde von den Augen fiel und sie einsahen, dass im Gegenteil nur da, wo man impfte, die Pocken auftraten, und dass da, wo man die Schafe nicht impfte, die Pockenkrankheit nicht bekannt war. Im Jahre 1870 wurde daher in § 49 des Viehseuchengesetzes für das deutsche Reich das Impfen der Schafe bei Strafe verboten. Dies war das Schicksal des Impfwesens im Schafstalle.

Aber lassen wir die Geschichte der Schaf-Pocken-Impfung. Bei den Menschen war die ursprüngliche Methode der Lanzetimpfung eine abergläubische; man bediente sich dabei einer vergifteten Impfnadel.

Die Impfweiber ritzten den Leuten auf den Handrücken, den Fußrücken, auf der Stirn und an den Wangen, entsprechend den Wundmalen Christi, in Kreuzesform („cruciatim“) die Haut auf und schmierten Pockengift in diese Wunden. Dabei murmelten sie Gebete und Beschwörungsformeln und zündeten geweihte Kerzen an. Die ganze Zeremonie lief auf eine Profanierung der sog. Stigmata hinaus.

Nachdem aber die Pockenimpfung in die Hände der Chirurgen und der Ärzte übergegangen war, ließen diese nach und nach einzelne Stigmen weg, erst die auf den Füßen, dann die im Gesichte, später verlegten sie die Impfstellen von den Handrücken auf die Arme.

Die Gestalt des Kreuzes für die Impfschnitte wurde noch lange beibehalten, stellenweise sogar bis tief in das 19. Jahrhundert hinein, als längst das Gift der Menschenpocke mit dem Gift der Kuhpocke (Vaccine) vertauscht, mit anderen Worten die Jennersche Impfweise eingeführt war.

Im späteren Verlaufe der Geschichte der Impfung begegnen wir keiner einzigen Änderung, sei es in der Technik des Impfens oder in dem Impfwunderglauben, aus welcher wir schließen könnten, dass von der Impfung das Mystische in Form oder Inhalt abgestreift worden wäre.

Ununterbrochen zieht sich das Gepräge des Aberglaubens durch drei Jahrhunderte hindurch; nur sehen wir von Zeit zu Zeit die Impfer sich abquälen, dem Impfkultus ein wissenschaftliches Mäntelchen umzuhängen, welches aber bis auf den heutigen  Tag stets so fadenscheinig ausfiel, dass man es besser weggelassen hätte.

Jedesmal wurde es den Impfern unbehaglich, wenn sie über ihr Tun wissenschaftlich Rechnung ablegen sollten, und sie gerieten fast in Verzweiflung, wenn besonnene Impfgegner ihnen tatsächliche Beweise für den Wunderschutz der Impfzeremonie abverlangten.

Sehr interessant sind in dieser Beziehung die Streitschriften des Kaiserlichen Hofrats Dr. de Haen aus dem vorigen Jahrhundert, welcher die Pockenbelzer oder Impfärzte in zwei Klassen, in Betrüger oder Betrogene einteilte und in zehn Hauptthesen den Anhängern der Impfung ihren Selbstbetrug nachwies.

Gegen das Ende des 18. Jahrhunderts war das Pockenbelzen oder Pockenimpfen dermaßen in Verruf gekommen, und des Volkes hatte sich ein solcher Unwille gegen die Pockenbelzer bemächtigt, dass man nahe daran war, den ganzen Impfhumbug, welcher, statt die Pocken zu dämpfen, sie noch vermehrte, als eine ärztliche Torheit über Bord zu werfen.

Da kam der Chirurg Jenner und schmuggelte an die Stelle des Impfstoffes von pockigen Menschen den Impfstoff von pockigen Kühen in die Impfstube ein, und unter dieser Verkleidung trat der alte Impfgötze noch einmal seine verderbenbringende Laufbahn an, geschützt durch die frechste Anpreisung einer erdichteten Impfschutzstatistik.

Teil 6: Geschichte der Pocken bei Schaf und Mensch von 1800 bis 1860

Von der Tilgung der Pocken in der einheimischen Schafswolle (1800/16) bis zu Einfuhr überseeischer Kolonialwolle in Europa (1860/74). Das Sinken der Pockensterblichkeit; das Verschwinden der einheimischen Menschenpocken (der variola nostra) aus Europa.

Im Anfang des 19. Jahrhunderts, in dem einen Lande etwas früher, in dem anderen um einige Jahre später, sehen wir in allen Ländern Europas die Pockensterblichkeit ziemlich plötzlich auf der ganzen Linie sinken.

Fast gleichzeitig mit den Pocken tritt auch die Krätze zurück, eine Hautkrankheit, welche in früheren Jahrhunderten bei Reich und Arm eine große Rolle gespielt und unter dem Krankheitsnamen „Psora“ in den Köpfen und medizinischen Werken der alten Ärzte geheimnisvoll gespukt hatte.

Es ist  kein Zufall, dass Pocken und Krätze, zwei engverwandte Sippen, welche beide ursprünglich wie die Motten vom Schafspelz stammen, in dem ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts ziemlich zu gleicher Zeit sich vor der fortschreitenden Volksgesittung, vor der Macht der Seife und vor gewissen veterinärpolizeilichen Landesgesetzen, welche wir sogleich kennen lernen, zurückzogen.

Wie 100 Jahre früher die Pest, so waren bei Beginn des 19. Jahrhunderts die Pocken den Menschen und ihren Ärzten abhandengekommen, ohne dass diese selbst es wussten, geschweige, dass sie es sich hätten erklären können. Da die Ärzte niemals eine Ahnung von dem natürlichen Entstehen der Menschenpocken gehabt hatten, so konnten sie von dem plötzlichen Verschwinden der Pocken die Ursache erst recht nicht finden.

Und doch musste zwischen dem bisherigen Hochstande und dem plötzlichen Tiefstande der Pockensterblichkeit, also unmittelbar vor ihrer Abfallkurve ein Pockendämpfer großartigen Maßstabes eingeschoben worden sein, ein Dämpfer, welcher nicht sowohl die fertigen Pocken als ihre Ursache, ihre Brutstätte, allenthalben auszurotten die Macht hatte.

Wenn sich nicht bestreiten lässt, dass bis dahin in der Kleiderwolle und in den geschorenen wie den pelzverbrämten Fellen pockiger Schafe die Keime der Pockenepidemien vorrätig versteckt lagen, dann haben wir die Erklärung für das Erlöschen der Pockenseuche im Anfange des 19. Jahrhunderts zunächst in solchen Dingen zu suchen, welche mit der Schafzucht und den Schafpocken, der Wollerzeugung und dem Wollhandel, den Wollindustrien und dem Lumpenverkehr zusammenhängen.

Der Hauptfaktor der Pockenlöschung im Anfange des 19. Jahrhunderts ist die Ausrottung des Pockengiftes aus der Wolle und den Fellen der Schafe um dieselbe Zeit.

Aus tierärztlichen und landwirtschaftlichen Büchern ersehen wir, dass im vorigen Jahrhundert die Felle und die  Wolle der an den Pocken krepierten Schafe ebenso wie die der gesunden Schafe, also wirkliches Pockengift, zu tausenden von Zentnern unbeanstandet in den Handel gingen.

Bei B. Ludw. Hükels „Schafvieh“ (Stargardt 1745) steht S. 57 zu lesen, dass, wenn einem Bauer die Herde von der Seuche dezimiert worden war, er wenigstens die Felle und die Wolle noch rettete. Er verkaufte beides; erhielt für 100 Schafsfelle 12-15 Reichstaler, wofür er dann 15 tragende Schafe wieder beikaufte.

Prof. Sick schreibt 1804, dass die Bauern, wenn die Pocken unter den Schafen aufgeräumt hatten, die Felle zum Trocknen auf den Böden aufhingen.

Prof. Dr. Sacco in Italien erzählt, dass die Schafe, wenn sich die Pocken bei ihnen zeigten, massenhaft zu dem Metzger getrieben, hier geschlachtet und abgeledert wurden.

In Schweden wurde 1765 der Schäferstand, welcher nicht wenig zur Züchtung der Wollpocken beitrug, durch Reichstagsbeschluss aufgehoben.

Sehr interessant für das Studium der natürlichen Entwicklungsgeschichte der Pocken in früheren Zeiten ist in Preußen ein Publikandum [Bekanntmachung] vom 29. April 1772 über Scharfrichter und Abdecker. Hier werden die Befugnisse zum Abledern und zur Abnutzung der erkrankten und gefallenen Tiere aufgezählt. Nach Vorschrift der Edikte vom 18. März 1667, 23. Mai 1682, 22. April 1689, 11. Februar 1704, 11. Januar 1707 und 30. Januar 1721 hatten die Schafsbesitzer und die Schäfer ein verhängnisvolles Privilegium; sie waren von der allgemeinen Verpflichtung, das abgestandene Vieh an den Scharfrichter oder Abdecker des Distriktes abzuliefern, bezüglich der Schafe ausgenommen.

Diese Unsitte, die Kadaver pockiger Schafe den Besitzern zum Abledern und zur eigennützigen Verwertung zu überlassen, musste den Pocken zu einer wahrhaft verheerenden Verbreitung verhelfen.

Wie allgemein im vorigen Jahrhundert die Pocken unter den Schafen waren, und was aus den Fellen der abgelederten pockigen Schafe wurde, das vernehmen wir wiederum aus der Literatur der Tierheilkunde und der Landwirtschaft. Barbaret schreibt 1770:

„Man lederte das gefallene Vieh ab und behielt die Häute, – eine für den Landmann verderbliche Wirtschaft. Es sollte nicht erlaubt sein, dergleichen Häute aufzubehalten.“ (S. 57) „Die Schafpockenseuche war in der Welt so allgemein wie die Kinderpocken in den Jahren worin sie epidemisch sind.“ (S. 80).

„Die Ähnlichkeit der Schafpocken mit den Kinderpocken ist äußerst rührend. Man hat unterschiedliche von den genesenen Schafen gesehen, deren Haut an dem Kopfe ebenso verunstaltet und narbig gewesen, als das Gesicht eines Menschen, welcher die bösartigsten Menschenblattern gehabt hat.“

Samuel Oedmann, ein bekannter schwedischer Probst, beschreibt die Kostüme aus dem vorigen Jahrhundert und bemerkt dabei, dass man allerwärts die Hosen und Wamse aus getrockneten Schafsfellen (s‘ Kinnbuxor [Lederhosen]) fertigte.

Dr. H. Bloß in seinem Buche „Das Kind“, Stuttgart 1876) erzählt, dass in alter Zeit die kleinen Kinder in Säcken von getrockneten Schafsfellen getragen wurden.

Bei dem schwedischen Schriftsteller F. R. Hastfer (1752) lesen wir, dass die Bauersleute aus ungeschorenen, getrockneten Schafsfellen Bettdecken zusammennähten und sich im Winter damit deckten.

Sollte es Zufall sein, dass bei den Menschen im vorigen Jahrhundert auch die Pockenepidemien am ehesten und am verheerendsten unter den Schafbauern herrschte, während die Städter länger verschont blieben? Hastfer (1752) sagt in seiner Vorrede S. II über die schwedische Schafzucht:

„Die Schäfereien sind die Stütze der Fabriken. Jeder Landmann bereitet sich aus Schafwolle und Fellen selbst das zu, was er zu Kleidern braucht, so dass es unnötig sein wird, ausländische Wolle kommen zu lassen. Es können unsere Landleute ihrer Tücher und Zeuge selbst verfertigen, wie es bei den Engländern gebräuchlich ist.“

Ärztliche Schriftsteller aus dem vorigen Jahrhundert nennen eine bestimmte Sorte Pocken bei den Menschen geradezu Schafpocken (Rosenstein, Schulz, Murrah). „Die Bauern liebten in früherer Zeit die Schafe weit weniger ihrer Wolle, als der Pelze wegen; sie fanden das dicke Leder ihrer zottigen Landschafe für ihren Kleiderbedarf vorteilhaft.“ (J. G. Ribbe, „Schaf und Wolle“, Prag 1825).

Um ein Schreckensbild von den Gefahren der Verwendung pockiger Schafsfelle in alter Zeit zu gewinnen, muss man in den Hebammenbüchern aus dem 17. Und 18. Jahrhundert über die Kinderpflege lesen. Man findet da beschrieben, dass damals, als die Pocken bei den Schafen eine alltägliche Herdenkrankheit war, den Säuglingen in den Wiegen getrocknete Schafsfelle und ungeschorene Lämmerpelze als Bettnässunterlage untergelegt wurden.

Und da zerbrechen heute die ärztlichen Gelehrten sich noch den Kopf über das Rätsel, dass im vorigen Jahrhundert die Pocken größtenteils eine Krankheit der Wiegenkinder waren! Dr. Spinola schreibt in seinem Handbuch der Pathologie für Tierärzte:

„Am meisten von allen unseren Haustieren leidet von den Pocken das Schaf. Als Seuche aufgefasst, kommen die Pocken nur bei Schafen in Betracht und unstreitig gehören sie zur verderblichsten Seuchenkrankheit. Was sie nicht an Toten fordern, bringen sie durch Nachkrankheiten und an der Wolle zu Schaden.

Mit Recht galten die Pocken früher für die  mörderischste Krankheit der Schafe“ (daher die Bezeichnung „Schafspest“), „welche in kürzester Zeit Tod und Verderben über die Schafherden brachten.

Es bedarf nur  des Lesens der Seuchenberichte aus früheren Zeiten, um sich von der Wahrheit zu überzeugen. So berechnet Salmuth in der Preisschrift über die Schafpocken, (Berlin 1804) den Verlust an Schafen in einem Zeitraum von 6 Jahren auf den achten Teil.

Liebold gibt den jährlichen Verlust in Ungarn auf 150.000 Stück an, bei einem Schafstande von 8 Millionen; Heintl veranschlagt ihn auf 400.000 Stück alljährlich für den österreichischen Staat, dessen Gesamtschafbestand 16 Millionen betrug.“

Die Erkrankungsfälle an Pocken bei den Schafen zählten jährlich nach Millionen. Spinola schreibt hierüber weiter:

„Die Anlage zu den Pocken ist bei den Schafen so groß, dass nur wenige, etwa 2 %, verschont bleiben, wenn die Krankheit in der Herde einmal ausgebrochen ist.

Das Schafpockenkontagium kann seine Keimkraft lange bewahren. An Wolle u.s.w. haftend, bleibt es länger keimfähig. Die Aufnahme des Kontagiums erfolgt durchs Blut. Dies beweisen die Versuche, wonach Schafe, die man an der Ohrspitze geimpft hatte, und denen 6 Stunden nach der Impfung die Ohren abgeschnitten worden, dennoch die Pocken bekamen.“

Bezüglich der Übertragung der Pocken vom Schaf auf den Menschen, – trotz der rückhaltenden Kraft der Wolle, – teilt Spinola folgenden Fall von Ansteckung mit:

„Ein mir befreundeter Tierarzt, welcher mit Impfen der Schafe beschäftigt gewesen, nahm bei seiner Nachhausekunft sein Kind auf den Arm und tändelte mit ihm. Das Kind bekam einen Pustelausschlag mit dem gewöhnlichen Verlauf der Pocken.“

Ist es zu verwundern, dass den Ausbrüchen der Schafpocken im vorigen Jahrhundert die Menschenpocken stets wie ein Schatten auf dem Fuße folgten? Der ursächliche Zusammenhang zwischen den Pocken des Menschen und den Pocken des Wollträgers liegt so nahe, wie der zwischen Trichinose des Schweines und Trichinosis des Menschen.

Und wenn Spinola weiter sagt:„Gegenwärtig grassieren indessen die Pocken bei den Schafen so mörderisch nichtmehr, wie ehedem,“ so haben wir in diesem Zeugnisse einer Autorität der Tierheilkunde die Erklärung, warum auch bei den Menschen die Pocken nicht mehr so mörderisch grassieren wie ehedem. Im vorigen Jahrhundert war eben kein Mensch, ob reich oder arm, sicher, ob seine Wollenzeuge und Schafsfelle nicht von pockenkranken Tieren stammten.

Es ist vorauszusehen, dass jede Unterdrückung der Pocken auf den Schafen und in der Wolle unfehlbar auch eine rasche und gewaltige Verminderung der Pockensterblichkeit der Menschen zur Folge haben müsste.

Zum Glück für die Menschheit ließen die polizeilichen Maßregeln zur Ausrottung der Pocken in den Schafsherden nicht lange auf sich warten. Die Landesbehörden, wie wir sogleich sehen werden, zogen in vernünftigerer Weise gegen die Pocken der Schafe und der Wolle als gegen die Pocken der Menschen zu Felde.

 

Teil 7: Der Eckstein für das Sinken der Pockensterblichkeit in Preußen im Jahre 1806

Eine königliche „Vorschrift wegen der gegen die Verbreitung der Schafpockenkrankheit zu beachtenden Maßregeln vom 27. August 1806“

In dieser königlichen Verordnung besitzen wir den veterinärpolizeilichen Dämpfer der Pockenepidemien auch für die Menschen; sie bedeutete den ersten großen Umschwung in den stallwirtschaftlichen Missständen der damaligen liederlichen Pockenzucht der Wollschafe.

Die kgl. Verordnung vom 27. August 1806 verpflichtet alle Besitzer von Schäfereien,

alles zu beobachten, was nötig ist, um der Verbreitung der Pocken Einhalt zu tun.“

„Die Besitzer der mit Pocken befallenen Schafherden und die Schäfer müssen den Ausbruch der Pocken sogleich dem Landrat und den Grenznachbarn anzeigen, bei Vermeidung einer Strafe, welche außer dem Schadenersatz für jeden Interessenten, für den Schäferknecht auf 5 Taler, den Schäfer auf 10 Taler und dem Eigentümer der Schäferei auf 25 Taler festgesetzt wird, und der in Absicht der ersteren Personen im Falle des Unvermögens eine Leibesstrafe substituiert werden kann.“

„Sobald der Ausbruch der Pocken in einer Herde bekannt ist, muss nicht nur der Besitzer mit derselben von der Grenze der Nachbarn (200 Schritt), sondern es müssen auch diese mit ihren Schafen von der Grenze der Ortschaft, deren Herde mit der Pockenkrankheit behaftet ist (200 Schritt), zurückbleiben, also zusammen 400 Schritt.“

§ VI.: „Sobald die Pocken in einer Schafherde ausgebrochen ist, muss aller Verkauf oder Tausch aus derselben so lange unterbleiben, bis die Krankheit völlig aufgehört hat, und selbst der Verkauf der anscheinend gesunden Häupter kann in dieser Zeit nicht stattfinden, bei Strafe von 5 Talern für jedes verkaufte Stück.“

§ VII: „Wenn auch die Pockenkrankheit aufgehört hat, so müssen doch die gesund gebliebenen Herden von den Triften [Treibwege] der krank gewesenen wenigstens noch sechs Wochen nach völlig aufgehobener Krankheit zurückbleiben.“

§ V.: „Übertreten die Schäfer und Schäferknechte die angeordneten Hütungsgrenzen, so findet dafür Bestrafung nach Vorschrift der Gesetze … statt.

Nach Inkrafttreten der königlichen Vorschrift im Jahre 1807 waren alsbald in den königlichen Landen die Pocken in den Schafherden wie ausgestorben; pockige Wolle und pockige Schaffelle gingen nicht mehr in den Handel. Das Jahr darauf, im Jahre 1808, begann denn auch das große Sinken der Pockensterblichkeit bei den Menschen.

Obige Verordnung war merkwürdiger Weise nur auf den Schutz der Schafe gegen das Pockengift berechnet. Die Motive derselben, rein landwirtschaftlicher Natur, dachten nicht im Entferntesten an die große Wohltat, welche durch diese Ausrottung des Pockengiftes aus der Handelswolle auch den Menschen bezüglich ihrer Verseuchungsgefährdung erwiesen wurde.

Gleichwie man heute die Trichine von dem Menschen nur dadurch abwehren kann, dass man die Trichine beim Schweine und überhaupt die trichinösen Schweine ausrottet und den Handelsverkehr trichinösen Schweinefleisches strenge verbietet, gerade so waren vor 75 Jahren die Pocken der Menschen nur dadurch zu beseitigen, dass man die Pocken bei den Schafen bekämpfte und den Handelsverkehr mit pockiger Wolle und pockigen Schafsfellen bei Strafe verbot.

Von diesen segensreichen pockenzerstörenden Maßregeln des landwirtschaftlichen Ministers wurden unbegreiflicherweise die praktischen Ärzte und selbst die hohen Medizinalbeamten gar nichts gewahr. Sie sahen allerdings die Menschenpocken plötzlich verschwinden, – wie früher die Pest; aber sie ahnten die Ursache dieser Seuchenlöschung nicht, trotzdem dieselbe  für den Volkswirt so nahe lag. Kurz, die Tierärzte hatten die Pocken bei den Schafen künstlich gelöscht, die Pockenwolle aus dem Verkehr gebannt, den Menschenärzten dagegen waren die Menschenpocken ohne ihr Wissen und ohne ihr Zutun unter den Händen entschlüpft.

Dieser großartige Umschwung in der Hantierung mit pockigen Wollen und Schafsfellen, – wozu noch die Einführung der Fabrik- und Rückenwäsche der Schafwolle und die Kunst der Wollentschweißung kam, – fiel zufällig in die Zeit, als die Menschenärzte hier und da in verschwindend wenigen Fällen begonnen hatten, nach Jenners Weisung beim Impfen statt des Menschenpockengiftes sich des Kuhpockengiftes zu bedienen; und die ärztlichen Autoritäten der Gegenwart sind wirklich naiv genug, das große Sinken der Pockensterblichkeit nicht auf jene großartigen kulturgeschichtlichen Vorgänge der Pockenlöschung in der Wolle, sondern auf die beginnende Verdrängung der Menschenpockenimpfung durch die Kuhpockenimpfung zurückzuführen.

Aber sehen wir uns den Krieg der Kultur gegen die Pocken der Schafherden in den einzelnen Ländern etwas näher an und fragen wir uns, ob das nicht in der Tat ein Pocken-Vernichtungskrieg auch für die Menschen zu nennen war.

 



Teil 8: Die natürliche Löschung der Pockenepidemien in Mecklenburg

In dem Jahre 1825 erließ die großherzoglichen Regierung „Vorschriften für die Beamten bei ausbrechenden Schafpocken“

Auch in Mecklenburg gehen Schafpocken- und Menschenpocken-Epidemien nebeneinander her; die letzteren verschwinden mit den ersteren. In der obigen großherzoglichen „Vorschrift“ vom 17. August 1825 wird verfügt:

… 3. „dass die an den Pocken erkrankten Tiere unabgeledert in einer Tiefe von mindestens 3 Fuß eingescharrt, 4. Die mit dieser Krankheit behafteten Schafherden wenigstens 500 Schritte von den Feldmarken der noch verschonten Ortschaften entfernt gehalten werden“ u.s.w.

Eine zweite eingreifende Maßregel zur Ausrottung des Pockengiftes ist eine „Einschärfung der gegen die Schafpocken zu ergreifenden Maßregeln vom 1. Sept. 1825.“ Da heißt es:

„So werden alle Behörden hierdurch ernstlich befehligt, … a) jede Art von Vertrieb mit Schafvieh, Wolle, Schafhäuten und rauer Fourage [Viehfutter] aus den von der Pockenseuche befallenen Ortschaften strenge zu untersagen.“

Ferner eine „Verordnung in Betreff der Schafpocken vom 3. April 1828.“

§ 11: „Dem Nachbar einer mit den Pocken befallenen Schäferei steht es frei, wenn sich Schafe auf seiner Feldmark ohne Hüter finden, solche sogleich zu töten und eingraben zu lassen.“

§ 13 belegt die Unterlassung der Anzeige von dem Pockenausbruche in einer Herde mit einer Geldstrafe von 10 Reichstalern oder mit einer angemessenen Körperstrafe.

In Mecklenburg hatte man schon gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts sich gegen die Wollpocken der Schafe gewehrt. Namentlich ging man gegen den Unfug der Schäfer, den Schafherden die Pocken künstlich (durch das Einstreuen pockiger Felle in die gesunden Schafställe und durch das Impfen) beizubringen, scharf vor. Sehr drastisch drückt sich in dieser Beziehung eine  „Patentverordnung vom 11. Oktober 1783“ aus. Es heißt daselbst unter Hinweis auf frühere Erlasse:

„Keinem Schäfer, bei dessen Herde die Pocken grassieren, soll das Ab- und Zuziehen gestattet werden.“ „Ein Schäfer, der dessen rechtlich überführt werden kann, dass er sich selbst die Pocken unter die Schafe mit Fleiß (d. h. durch Impfung u. dergl.) herbeigeholt hat, soll mit einer unerbittlichen Strafe von öffentlichen Rutenschlägen am Pfahl und mit Ersetzung aller erweislichen Schäden und Kosten angesehen werden.“

So bestrafte der Großherzog von Mecklenburg schon im Jahre 1783 das Impfen – der Schafe! Ob und in welchem Umfange diesen strengen Maßregeln gegen die Weiterschleppung des Pockengiftes in der Schafwolle in Mecklenburg schon damals, im vorigen Jahrhundert, ein Sinken der Pockensterblichkeit gefolgt sei, darüber wären, – in Ermangelung einer Erkrankungs- und Sterbestatistik aus jener Zeit – die Sterberegister der einzelnen Ortschaften und die Ortschroniken in Mecklenburg zu befragen.

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